Was mich heute aufgeregt hat? Dass der öffentlich-rechtliche Radiosender WDR Sprache in einer Nachricht polarisierend verwendet!
Ganz gemütlich sitze ich heute beim Sonntagsfrühstück in der Küche. Nebenher läuft das Radio. Bei mir läuft immer WDR 2 (manchmal auch WDR 5). Denn ich bin mit dem WDR aufgewachsen – in Funk und Fernsehen. Und ich finde den Informationsgehalt für NRW und meine Region im Vergleich zu anderen Sendern hier immer noch am besten – jedenfalls im allgemeinen. Weniger schätze ich die auch hier üblich gewordenen Doppel-Moderationen und das Beitragsformat mit der für mich eher störenden, unterlegten Musik – und oft die Musikauswahl selbst.
An den Nachrichten habe ich aber selten etwas zu meckern – kurz, neutral und auf den Punkt sind sie in der Regel, sprachlich korrekt, manchmal ein bisschen flapsig – aber das stört eher den Mann.
So nicht, lieber WDR!
Heute aber bin ich nach den WDR-Nachrichten auf 180 – denn folgendes muss ich da hören:
Im sozial benachteiligten Stadtteil Tannenbusch fand gestern eine Impfaktion statt, …
Als Texterin, Bloggerin und auch als politisch korrekt handelnder Mensch finde ich diese Formulierung inakzeptabel – und habe darüber heute sehr kontrovers und emotional mit meiner Familie und etwas gemäßigter mit zwei Freundinnen diskutiert. Denn ich persönlich wie beruflich finde, dass Sprache das Denken und in der Folge auch das Handeln bestimmt. Insofern kommt den öffentlich-rechtlichen Medien wie dem WDR eine besondere Verantwortung zu, Sprache professionell, NICHT polarisierend und gerade in Nachrichten absolut neutral und korrekt zu verwenden. Das ist hier leider nicht passiert.
Was genau mich an dieser Formulierung so extrem stört? Ich kann gleich mehrere Gründe aufführen:
- Der Stadtteil selbst ist nicht „sozial benachteiligt“. Wohl aber viele Menschen, die dort leben – aber eben längst nicht alle. Diese Verallgemeinerung ist also sachlich falsch.
- Menschen leben dort z. B. auch, weil dieser Stadtteil in Bonn diesen „schlechten“ Ruf hat, in der Folge dort die sonst explodierenden Mieten niedriger sind als im Rest von Bonn und viele Menschen mit normalen Jobs und normalen Einkommen sich andere, weniger „verrufene“ Stadtteile schlicht nicht mehr leisten können.
- Oder z. B. Student:innen, die alles andere als sozial benachteiligt sind, sich die teuren WG-Mieten in Uni-Nähe aber ebenfalls nicht (mehr) leisten können.
- Oder ein Auszubildender zum Bankkaufmann, dessen Eltern (beide verbeamtet) dort eine günstige Wohnung gekauft und somit für bezahlbaren Wohnraum für das eigene Kind gesorgt haben.
Korrekt wäre also zu sagen:
In Tannenbusch, einem Stadtteil von Bonn, in dem viele sozial benachteiligte Menschen leben, fand gestern eine Impfaktion statt…
Aber: Ist das für den Nachrichtengehalt überhaupt relevant? Ich sage NEIN!
Inhaltlich relevant ist für die Impfkampagne und also für den Nachrichtenwert NICHT, dass dort viele sozial benachteiligte Menschen leben, sondern, …
- dass die Impfaktion direkt vor Ort da stattfindet, wo derzeit sehr viele Menschen auf engem Raum in Hochhäusern zusammenleben und wenig Abstand halten können.
- dass dort viele Menschen leben, die aufgrund ihrer Herkunft und Kultur Vorurteile gegen die Corona-Impfung haben.
- dass dort Menschen schnell und effektiv geimpft werden, die z. B. wegen Sprachschwierigkeiten – ja, dort leben viele Menschen mit Migrationshintergrund – mit dem komplizierten Online-Buchungssystem nicht zurecht kommen, oder sie aufgrund der Sprachbarrieren von den Angeboten sonst nicht erfahren bzw. diese nicht verstehen.
- dass mehrsprachige Impfteams die Menschen direkt vor der Impfung aufklären, informieren und Vorurteile erklärend ausräumen können.
Schriftlich finde ich diese Formulierung nicht beim WDR
Interessant finde ich, dass ich diese polarisierende Formulierung schriftlich nicht auf den WDR-Seiten finde – auch nicht auf anderen Nachrichtenseiten der Medien. Stattdessen wird hier völlig korrekt und neutral berichtet:
13.22 Uhr: Erfolge bei Impfaktionen vor „Woche des Impfens“
Um möglichst viele Menschen von der Corona-Impfung zu überzeugen, gehen zahlreiche Städte in die Offensive und veranstalten besondere Impfaktionen. Bei einer solchen haben sich nun im Bonner Stadtteil Tannenbusch 286 Menschen impfen lassen, wie die Bundesstadt über Twitter mitteilte.
Mein Fazit: Sprache prägt – deshalb wünsche ich mir vom WDR mehr Professionalität im Gebrauch
In meiner Ausbildung zur Fachjournalistin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Ende der 90er Jahre habe ich gleich zu Beginn gelernt, was eine Nachricht bzw. Meldung ist und ausmacht und wie ich sie schreiben muss – der Bayerische Rundfunk hat dazu die passende Definition auf seiner Website:
Bewertungen haben bei den Nachrichten nichts zu suchen. Da hast du Recht, liebe Nicole. Das nennt man im Bedarfsfall Kommentar, der hier nicht abgedeckt werden soll. Ein sehr wertvoller Artikel, den du hier geschrieben hast. Viele Grüße, Claudia
Danke dir für deine zustimmende Rückmeldung, liebe Claudia. Lieben Gruß, Nicole
Liebe Nicole,
ich finde, du hast einen guten, aufklärenden und wachrüttelnden Beitrag geschrieben. Denn obwohl auch ich Redakteurin bzw. Texterin bin, fallen mir viele verallgemeinernde und oft indirekt wertende Formulierungen (besonders in Nachrichten, wo sie nicht hingehören) vielfach gar nicht mehr auf, weil sie so häufig im allgemeinen Sprachgebrauch genutzt werden. Grade im Zusammenhang mit sog. “seriösen” Medien sollte das aber nicht passieren. Insofern vielen Dank für deinen “Aufreger des Tages”. Manchmal muss man mal rütteln und schütteln, um etwas deutlich zu machen.
LG, Simone
Liebe Simone, es freut mich, wenn ich für mehr Bewusstsein sorgen konnte – genau das ist meine Absicht. Danke dir fürs Lesen und den ehrlichen Kommentar. LG Nicole
Liebe Nicole,
ich finde das Thema so, so wichtig! Wir Menschen gehen oftmals viel zu wenig bewusst mit Sprache um und gerade in Nachrichten und Medien ist dies wesentlich. Ich wohne selbst in Wien in einem Stadtteil, der ebenfalls in Verruf geraten ist, wenngleich es auf einen Großteil der hier lebenden Menschen nicht zutrifft (hier gibt es sogar einen „Spitznamen“, statt Rudolfsheim-Fünfhaus, Rudolfscrime-Fünfhaus…).
Mindestens genauso schlimm finde ich, dass – zumindest in Österreich – bei jeder Berichterstattung zu Kriminalität (sei es ein Einbruch oder auch bis hin zu Morden) immer noch in der Headline die Nationalität der Täter:innen genannt wird. Sachlich nicht relevant, sorgt aber dafür, dass die wirklichen Ursachen (bspw. Frauenhass und diesen begünstigende Strukturen bei Femiziden) nicht diskutiert werden, weil schnell eine „eindeutige“ Ursache auf anderer Ebene (Rassismus) suggeriert und nurmehr auf dieser Ebene diskutiert wird.
Ähnlich wie bei deinem Beispiel: Mit dieser Aussage wird künstlich eine Distanz zu den Menschen die es betrifft erzeugt, ergo schnell abgetan, weil eh schon was getan wird (Impfaktion), damit muss mensch nicht mehr auf das schauen, was wirklich an Problematik zugrunde liegt.
Insgesamt ist der Sprachgebrauch für mich jedenfalls auch ein Dauer-Aufreger. Sei es in Unterhaltungen, den Medien oder Fachliteratur bis hin zu Romanen. Bewusstsein schaffen und schärfen wirkt und wird immer wichtiger. Wenn wir es schaffen diesen „Hebel“ bewusst und gut einzusetzen, kann viel bewirkt werden.
Liebste Grüße aus Wien,
Lorena
Liebe Lorena, das ist spannend, was du schreibst – danke dir für deine wertvollen Einsichten in Wien/Österreich. Das Nennen der Nationalität von Kriminellen ist hier auch ein Thema, obgleich hier schon gut versucht wird gegenzusteuern. Aber es geht wie du richtig schreibst in die selbe Richtung – und da müssen wir sehr sensibel draufschauen, denn „Sprache ist die Kleidung der Gedanken“ (Samuel Johnson) und offenbart schnell, wes Geistes Kind wir sind… Herzlichen Gruß nach Wien! Nicole